Grenzen der Gesamtschule
Vom Reformtraum zum Alptraum
Die einen träumen von einer Schule für alle, die anderen monieren eine sozialistische Einheitsschule: Das Konzept Gesamtschule sorgt allerorts für Debatten. Manch ein Bundesland will sie zugunsten anderer Schulformen abschaffen. Hat die Gesamtschule ausgedient?
1982 soll die Gesamtschule offiziell von der Kultusministerkonferenz (KMK) anerkannt werden, nachdem mehrere Bundesländer zehn Jahre lang das Konzept getestet hatten. Doch es wird nicht der Anfang, sondern das Ende verkündet. Beschlossen wird nicht die Reinform der Gesamtschule, sondern „ein Mutant, ein Bastard des Zieles aller Reformpädagogen“, wie Christian Füller 2008 im Spiegel schreibt.
Einst als Schule für alle und ohne Klassenschranken gedacht, gemäß Willy Brandts Credo: „Mehr Demokratie wagen“ sollten auch die unteren Schichten Zugang zu sämtlichen Bildungseinrichtungen erhalten. Doch was 1982 verabschiedet wurde, sieht anders aus: Eine echte integrierte Gesamtschule kann nicht zustande kommen, da die Schüler in bestimmten Fächern wie Mathematik, Deutsch, der ersten Fremdsprache, Chemie und Physik nach ihrer Leistung separiert werden sollen. Das Abitur wird nur genehmigt, wenn die Schulstrukturen denen des Gymnasiums gleichen.
Wo stehen Gesamtschulen heute?
Die sogenannten Gesamtschulen werden sofort nach den Hauptschulen gelistet, wenn es um Deutschlands schlechteste Schulen geht. Die reformpädagogischen Ziele konnten sich gegen die KMK nicht behaupten und Gesamtschulen müssen genau wie andere Schulen auslesen und aussortieren. Die Gesamtschüler erfahren in ihrem Schulalltag, dass es mehr und minder begabte Schüler gibt, die in Kurse eingeteilt werden, die ihren individuellen Leistungen entsprechen. Dieses tägliche Differenzieren und Selektieren ist das große Problem der Gesamtschule und nichts liegt dem ursprünglichen Gedanken ferner.
Schickten einige Eltern einst bewusst ihre Kinder auf Gesamtschulen, weil ihnen erstens die optimale Förderung und Forderung versprochen und zweitens eine Ganztagsbetreuung angeboten wurde, so fällt diese Klientel immer mehr weg. Denn Leistungs- und Begabtenförderung findet an den meisten Gesamtschulen kaum statt. Darunter leiden vor allem Oberstufenschüler, die sich nicht das Wissen und die Arbeitstechniken aneignen können, die sie zum Abitur führen.
Das immer gleiche Lied
Schon in den 1960er schreibt Georg Picht, deutscher Philosoph, Theologe und Pädagoge (1913 bis 1982), über die „Bildungskatastrophe“. In seinem gleichnamigen Buch heißt es: „Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Statistik am untersten Ende der europäischen Länder.“ Junge Wissenschaftler würden das Land verlassen, qualifizierter Nachwuchs bliebe aus: „Wenn das Bildungswesen versagt", schreibt Picht, „ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht.“ Diese Worte stammen aus dem Jahr 1964 und sind aktueller denn je.
Pichts Buch, eine vergleichende OECD-Studie und das Buch „Bildung ist Bürgerrecht“ (19965) des Soziologen Ralf Dahrendorf bewegen die 1960er Jahre. Der Bundeskanzler und die KMK geben einen Bildungsbericht heraus, die gemeinsame Grundschulzeit wird verlängert, einige Bundesländer führen Gesamtschulen auf Probe ein. Auch heute wird wieder, wie in Hamburg, darüber diskutiert, die Grundschulzeit auf sechs Jahre zu verlängern.
Demokratisierung der Schulstruktur
Dies war das Ziel der US-Truppen nach 1945. Nach ihrer Ansicht habe die kaiserlich getrennte Schule blinde Autoritätshörigkeit vermittelt und die Schichten systematisch voneinander getrennt. In der US-Zone wollte man daher ein Gesamtschulsystem entwickeln, doch wie so oft scheiterten die Pläne an dem reaktionären Verhalten Bayerns.